Melody by Martin Suter
Autor:Martin Suter [Suter, Martin]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Roman
Herausgeber: Diogenes Verlag
veröffentlicht: 2023-03-21T23:00:00+00:00
IN DER ERSTEN Zeit nach Melodys Verschwinden, als ich jeden Tag vergeblich auf ein Zeichen hoffte, eine Nachricht von ihr oder wenigstens über sie, begann ich wieder zu beten. Kindlich, wie vor fünfundzwanzig Jahren. »Heilige Maria, Mutter Gottes, mach, dass Melody nichts zugestoÃen ist und sie bald wiederkommt.«
Ich zog mich immer mehr zurück. Zwar arbeitete ich noch Tag für Tag bei Streun & Partner, aber ich nahm kaum mehr an Sitzungen teil und mied den Kundenkontakt, wann immer möglich.
Auch gesellschaftlich trat ich kaum mehr in Erscheinung. Ich ging nicht mehr in die Oper, sagte alle Einladungen ab, ging nicht an die Treffen der Zunft und verabschiedete mich nach Vorstandssitzungen, bevor der gemütliche Teil begann.
Ich reichte sogar im Generalstab ein Urlaubsgesuch ein.
Ich ertrug die Anteilnahme der Wohlmeinenden nicht. Verstehst du das? Sie war nicht echt. Man kann nicht an etwas Anteil nehmen, das die Vorstellungskraft dermaÃen übersteigt, wie das meine Tragödie tun musste. Diese vorgetäuschte Anteilnahme war noch unerträglicher als die kaum verhohlene Schadenfreude.
Im April 1984 , fast ein Jahr nach Melodys Verschwinden, kam Streun zu mir ins Büro und sagte: »Du brauchst eine Auszeit. Nimm dir eine, zwei, drei, so viele Wochen, wie du brauchst, aber komm erst wieder, wenn du deine Trauerarbeit geleistet hast.«
Als ich meine Einwände vorbringen wollte, unterbrach er mich: »Du brauchst eine Auszeit von allem. Und â sei mir nicht böse â wir brauchen auch eine von dir.«
Ja, Streun konnte sehr direkt sein.
Ich musste nicht lange überlegen, wo ich diese Auszeit verbringen wollte. Schon als jugendlicher Marienverehrer hatte ich von dem Ort geträumt: dem Heiligen Berg Athos, dem Maria geweihten Mönchsstaat auf einer Landzunge der Halbinsel Chalkidiki in der Ãgäis, wo Frauen bis heute keinen Zugang haben.
Es war nicht ganz einfach, dorthin zu gelangen, man brauchte eine Art Visum, das Diamonitirion, das nur vier Tage gültig war. Doch Chantal Favre kümmerte sich darum.
Ich flog nach Athen, übernachtete dort im Grande Bretagne und nahm am nächsten Tag den Bus nach Thessaloniki. Von dort aus ging es weiter nach Ouranoupoli, einem kleinen Dorf am Meer. Ich weià noch, wie ich am Tisch eines einfachen Restaurants an der Mole saÃ, Moussaka und Fisch aÃ, dazu Wein und Ouzo trank und die beiden Paare beobachtete, die sich am nächsten Morgen für vier Tage trennen mussten. Es war ein lauer Abend, schon fast sommerlich, nicht wie zu Hause.
Am nächsten Morgen standen wir früh beim Bootssteg. Die beiden Paare und acht Mönche mit Bündeln und Taschen, dazu zwei halb neugierige, halb verängstigte Novizen und ich. Im Wasser schwebten anmutig Hunderte durchsichtiger Quallen, und im blassblauen Himmel segelten die Möwen.
Der Bootsführer verteilte uns gleichmäÃig back- und steuerbords in seinem offenen Boot. Das Gepäck kam in die Mitte. Er warf den Motor an, und wir legten ab.
Die beiden Pilger winkten ihren Frauen, die auf dem Steg immer kleiner wurden. Ich winkte ebenfalls.
Auch ich hatte meine Frau zurückgelassen.
Lange fuhren wir die Küste entlang. Ab und zu waren in der Hügelflanke Gebäude zu sehen, Einsiedeleien, Kapellen und Klöster in gewagter, stolzer Architektur. Manchmal steuerte das Boot
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